Was wir Liebe nennen, ist anfangs nur ein Zittern. Ein Schauer, den wir kaum bemerken, der uns nicht frieren lässt, aber daran erinnert, beizeiten nach etwas zu suchen, das uns wärmt. Irgendetwas gerät aus der Ruhe, ein winziges Teilchen nur, wie man es vom Schütteln alter Uhren kennt. Zwischen den Schulterblättern löst es sich und treibt, weil es leichter ist als wir, langsam den Nacken hinauf.
Endlich gerät es in ein kleines Organ, das wir Hippocampus nennen, weil es aussieht wie ein Pferd. Oder wie eine Mischung aus Pferd und Monster. Hier entsteht die Erinnerung. Immerfort bilden sich neue Nerven, und auf einmal glauben wir, den anderen längst zu kennen. Schon immer, so vertraut fühlt er sich an. Wir verlieben uns in das, was uns ähnelt.
Dann erst kommt alles andere, der Rausch, die Aufregung, das Glück. Auf einmal ist kein Hunger mehr, kein Schmerz und kein Schlaf. Was wir Liebe nennen, lässt alle auf uns los: Dopamin, Endorphin, Adrenalin. Wir atmen, wir schwitzen. Wir dampfen Lockstoffe aus. Die Alten glaubten an einen Pfeil im Herzen, und man bekommt ihn nicht wieder heraus.
Was wir Liebe nennen, ist zu viel und zu wenig. Es ist Mangel und Fülle, Ungenügen und Überfluss, auch wenn die Sehnsucht beim besten Willen nicht weiß, woran hier Überfluss bestehen soll, außer an der Liebe selbst. Nur was uns fehlt, wissen wir immer.
Jo Lendle: Was wir Liebe nennen. dva, 2013.
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